DIE USE – DIE UNEINIGEN STAATEN VON EUROPA

Es begann, wie alle Märchen beginnen: Es war einmal. Doch Krieg kann man nicht erklären. Der Zweite Weltkrieg war aus, und wir kamen hervor aus Kellern, Schutt und Ruinen. Eine entfesselte Soldateska zog plündernd, mordend und vergewaltigend durch die Stadt. Mutter hat entsetzliches erlebt. Als so genannte „Ausgebombte“ waren wir bei einem General aus der k.&.k.-Zeit zwangseinquartiert. Ein weit entfernter Verwandter, wie sich später herausstelle. Als Russen die Tür aufbrachen, stelle er sie – natürlich russisch sprechend – zur Rede. Ein Feuerstoß aus einer Kalashnikov beendete sein Leben. Er wurde in einem nahen Park verscharrt: Generalmajor Moritz von Partyka. Lange Zeit noch ging es nur ums nackte Überleben. Aber schon zehn Jahre später, als die letzten, fremden Soldaten unser Land verließen, hätte nahezu jeder, außer jenen die in Stalins Reich wollten, auf Befragen gesagt, er sei bedingungslos und ohne jedes Wenn und Aber für ein vereintes Europa.

Heute ist Europa uneins. Ist es am Ende? Die Anschläge von Paris und erwünschte, millionenfach illegale Migration stellen die Europäische Union vor ihre nächsten großen Herausforderungen. Wie steht es mit der abendländischen Identität und den Werten Europas? Findet man einen Weg aus der Krise? Und wird es der richtige sein? Bei 28 Kapitänen auf einer Kommandobrücke? Das Schlagwort von Betonkopf-Staaten macht die Runde: Die Visegrad-Staaten opponieren gegen die Willkommenskultur.

ES IST WIE ES IST

„Lassen Sie Europa entstehen!“ Mit diesem Aufruf schloss Winston Churchill 1946 seine berühmte Rede in Zürich, in der er die Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“ entwarf. Großbritannien, so seine Vorstellung, sollte zwar nicht dazugehören, aber Britannien und andere Staaten „müssen Freunde und Förderer des neuen Europa sein“. Dieses Jahr, rund siebzig Jahre später, könnte sich entscheiden, ob es die EU in ihrer jetzigen Form weiter geben wird. Anlass: Das für die zweite Jahreshälfte erwartete britische Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreiches in der EU. Die Buchmacher des internationalen Wettbüros Ladbrokes schätzen die Wahrscheinlichkeit eines Brexit mit 40 Prozent. Tendenz steigend.
Die Flüchtlingskrise wird heuer zu einer der größten Herausforderungen für die Union. Gemeinsamkeiten wird es kaum mehr geben. Die Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten sind erheblich. Keiner glaubt noch an die Mär einer massenweisen Abschiebung. Und 99% aller Flüchtlinge kommen aus einem sicheren Land: Der Türkei. Niemand wundert sich mehr: Die EU bezahlt jetzt ein Nicht-EU-Mitglied dafür, dass es seine Grenzen dichtmacht. Ob die türkische Regierung ein zuverlässiger Partner ist, muss sich noch herausstellen.

KONFLIKTE UND KRITIK

Die nationalen Regierungen in Osteuropa rütteln an den rechtsstaatlichen Werten der EU. Einmischung der EU ist unerwünscht. Die Osteuropäer sagen: Ihr habt das Schlamassel angerichtet, jetzt schaut, wie ihr damit fertig werdet. Für sie ist so was wie „Paytime“. Die „Westler“ schlagen zurück, drohen mit Kürzung von Subventionen und fragen: was ist eigentlich die gemeinsame Wertebasis mit Ländern wie dem heutigen Polen? In Griechenland und Portugal warten alle auf eine Lockerung der Sparvorgaben. Und wie es weitergeht wenn Alexis Tsipras seine Rentenreform nicht durch das Parlament bringen sollte, daran mag man nicht einmal denken.
Dem Schengenraum droht ein längeres Aus. Es gibt dann wieder Grenzkontrollen und kilometerlange Staus an den Grenzen. Janis Emmanouilidis, Direktor des Brüsseler Thinktanks European Policy Centre (EPC), warnt: „Es besteht die Gefahr, dass die EU auseinanderfällt, wenn man die Situation nicht unter Kontrolle bekommt“. Denn: „wir sind mit einer Polykrise konfrontiert“. Diese Spannungen führten dazu, dass nationale Interessen oft in den Vordergrund treten.

Ist das noch unser Europa? Diese Frage stellen sich immer mehr Menschen und verlieren das Vertrauen in „Brüssel“. Das Synonym für die EU. Die wird heute „kaltherzig, weltfremd und bürokratisch“ erlebt. Rechtzeitig vor dem ersten Adventsonntag brachte die EU-Kommission eine neue Verordnung auf den Weg, welche die EU-Bürger vor den Gefahren der Kerze bewahren soll. Brüssel wieder sagt, die sei Schuld der nationalen Regierungen. Die wollen ihre Macht möglichst erhalten und delegieren deshalb nur vermeintlich unwichtige Aufgaben, wie zum Beispiel die Gurkenkrümmungsverordnung – übrigens auf Wunsch Österreichs, an die europäischen Institutionen. In der heutigen Europäischen Union sei eine Form der konsensstiftenden Demokratie unmöglich. Der Europäische Rat ist keine Regierung, sondern eine Verrechnungsstelle für Nationalinteressen. Eine echte europaweite Debatte über die alle Bürger betreffende Politik findet nicht statt. Brüssel wieder sagt: Wenn alle EU-Beschlüsse brav umgesetzt würden, wären die Probleme schnell gelöst. Doch das alles greift zu kurz. Es ist die Ursünde der Gründerväter: Man hat die Menschen auf die weite Reise ins vereinte Europa nicht „mitgenommen“. Man hat ihre Herzen nicht erobert. Die heutige EU, seinerzeit als „Eisen- und Stahlunion“ gegründet, ist Kopfgeburt einer abgehobenen Elite.

SHOWDOWN?

Das könnte ein Szenario für den letzten Showdown sein. Hätte man Brüssel eigene Finanzmittel gegeben, gäbe es eine Sozial-EU. Dann hätte es nicht so weit kommen müssen, heißt es. Doch das Gegenteil ist der Fall. Man legte Schwerpunkte auf Einschränkung der Sozialleistungen, Wettbewerbsfähigkeit und Austeritiy, sprich Sparen. Die neoliberale Ideologie hat gesiegt, Solidarität ging verloren und immer mehr Menschen wenden sich von dieser EU ab.

Das Gute: Niederländische EU-Präsidentschaft will das Ruder herumreißen. Ihr Leitbild ist eine EU, die sich auf das Wesentliche konzentriert, Wachstum fördert und ihre Bürger in den Mittelpunkt stellt. Die vier Prioritäten sind: Migration und internationale Sicherheit, Innovation und Beschäftigung, Finanzstabilität und Stärkung der Eurozone sowie eine zukunftsorientierte Klima- und Energiepolitik. Das ist grundsätzlich noch immer dieselbe Ideologie. Außer als Produktionsfaktor kommt der Mensch nicht vor. Brüssel ist sich seines schlechten Images längst bewusst und müht sich, gegenzusteuern. „Ich wünsche mir eine Europäische Union, die in großen Fragen Größe und Ehrgeiz zeigt und sich in kleinen Fragen durch Zurückhaltung und Bescheidenheit auszeichnet“, verkündete der neue EU-Kommissionpräsident, Jean-Claude Juncker, zu Beginn seiner Amtszeit.

GIANIS VAROUFAKIS

Griechenlands Ex-Finanzminister Gianis Varoufakis hat die Wiener Bühne zu einer Attacke auf die Euro-Krise-Politik der EU-Staaten genutzt. Die gegenwärtigen EU-Institutionen seien in der Finanzkrise ab 2008 am Schutz der Mitgliedsstaaten gescheitert. „Eine Europäische Union wäre eine großartige Idee – aber wir haben keine“, sagte Varoufakis. Die Euro-Zone lasse es an „Schock-Absorbern“ vermissen, die Ausgleich zwischen reichen und armen Staaten ermöglichten. „Die gemeinsame Währung hält es mit dem Motto der Bourbonen, die nichts lernten und nichts vergaßen“, sagte der Ökonom. Seine Amtszeit als Finanzminister von Jahresanfang 2015 bis Juli sei schwierig und ihr Ende für ihn „traumatisch“ gewesen, räumte Varoufakis in seinem Vortrag ein. Immerhin habe er aber eines erreicht. „Die Leute wissen jetzt, dass die Euro-Zone kein Protokoll über ihre Sitzungen führt. Die Europäer sollten wissen, dass ihre Wirtschaft von einer Geheimgesellschaft regiert wird“, sagte der 54-Jährige.

Eine EU-Regierung, kontrolliert von einem starken Parlament, würde das ändern. Immer weniger scheint die Europäische Union im Stande, mit ihren inneren Widersprüchen fertig zu werden. Ein Hauptgrund dafür ist ihr Demokratiedefizit. Zwar sind alle EU-Mitgliedsstaaten Demokratien, zumindest formal. Auch gründet der Vertrag von Lissabon die Union auf Freiheit, Demokratie und Gleichheit. Doch daraus wird in der Summe noch lange keine europäische Demokratie.

Seit nun schon mehr als zehn Jahren hat sich in der Europäischen Union eine Praxis durchgesetzt, die Aufschrecken lässt – was Recht und Gesetz ist, ist egal. „Es wird durchgesetzt was den EU-Eliten in den Kram passt“ stellt das Buch „Von Rettern und Rebellen: Ein Blick hinter die Kulissen unserer Demokratie“ in aller Deutlichkeit fest. Die EU scheint ein altes Sponti-Motto übernommen zu haben: „Legal, illegal, scheißegal!“ (Die NEOpresse). Facit: Die Europäische Union ist derzeit kaum mehr, als die Summe nationalstaatlicher Interessen

DIE EU ZIEHT IN DEN KRIEG

In den Medien hört man beim Thema „Terror“ und „Angriff auf Frankreich“ oft von einem Bündnisfall. Man beruft sich dabei auf Art. 42 Absatz 7 des Lissabon-Vertrages. In der diplomatischen Sprache bezeichnet ein Bündnisfall eine Lage, in der ein Staat aufgrund eines Beistandsvertrages verpflichtet wird, in einen Krieg einzutreten, den der jeweilige Bündnispartner führt oder einen Krieg zum Schutze dieses Partners zu beginnen.

Neben der Beistandspflicht im Bündnisfall gemäß Art. 5 des Nordatlantikvertrages (NATO-Vertrag) der schon seit 1949 in Kraft ist, gibt es eine Beistandspflicht im Bündnisfall gemäß Art. 42 Absatz 7 EUV aus dem 2009 in Kraft getretenen EU-Reformvertrag (EUV) von Lissabon. Der besagt, dass im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta), schulden. Art. 42 Absatz 7 EUV stellt aber auch klar, dass die Verpflichtungen und die Zusammenarbeit in diesem Bereich im Einklang mit den im Rahmen der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) unverändert bestehen bleiben.

Die im Artikel 42 Absatz 7 EUV beschriebene Beistandspflicht geht inhaltlich deutlich über Art. 5 des NATO-Vertrages hinaus. Dieser verlangt nur eine für erforderlich erachtete Beistandspflicht. Art. 42 Absatz 7 EUV jedoch verpflichtet die Mitgliedstaaten alles in ihrer Macht stehende zu tun. Die Anwendung von Waffengewalt kann unter Berufung auf Art. 42, 7 EUV also durchaus vom Bündnisfall ausrufenden Mitgliedstaat eingefordert werden. Die Berufung auf Art. 42, 7 EUV hat ferner den Vorteil, dass auch an die Solidarität von Mitgliedstaaten appelliert wird, die aber nicht Mitglieder der NATO sind, etwa Österreich, Irland, Schweden oder Finnland. Grundsätzlich vermeint man, dass die Anwendung des Art. 42 Absatz 7 EUV auch bei Terror-Angriffen zu bejahen ist.

DER EURO

Eine in listiger Bankensprache geforderte Änderung des Sparerschutzes bringt mit sich, dass jedes Euro-Land für die Spareinlagen aller anderen Euroländern haftet. Vielen gefällt das nicht. EZB-Präsident Mario Draghi meinte dazu am ersten Jahrestag der EZB-Bankenaufsicht in Frankfurt, dass der Sparerschutz nun endlich auch grenzübergreifend vereinheitlicht werden muss. Denn: „Nach Bankenaufsicht und Bankenabwicklung sei es höchste Zeit, dass die Bankenunion komplettiert wird. Ansonsten würden wir denselben Fehler machen wie zur Einführung des Euro.“ Und weiter: „Die Bankenunion brauche alle drei Pfeiler: gemeinsame Bankenaufsicht, gemeinsame Abwicklung von Kriseninstituten und gemeinsame Sicherung von Einlagen. Und damit Bankeinlagen wirklich überall im Euro-Raum sicher sind, muss sichergestellt werden, dass die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns einer Bank unabhängig ist von ihrem Sitz“. So Draghi.
Neue EU-Mitgliedsstaaten zeigen derzeit wenig Lust den Euro einzuführen. Der Glanz des Euro verblasst. In Finnland machen einzelne Politiker die Gemeinschaftswährung sogar für die wirtschaftliche Misere des Landes verantwortlich und die Rufe nach einem Ende der Sparpolitik werden europaweit immer lauter

WIRTSCHAFT

So dramatisch hat man es schon lange nicht gehört: Auf Anleger, Sparer und Investoren komme ein „katastrophales Jahr“ zu, schrieb Andrew Roberts, Chefanalyst der Royal Bank of Scotland (RBS), in einem Anlegerbrief, der vom britischen „Telegraph“ aufgegriffen wurde. „Verkaufen Sie alles!“, rät der Banker den Kunden. Er prognostiziert einen Einbruch der Kurse an der Wall Street und an den europäischen Börsen um bis zu 20 Prozent. „Aktien und Kredite sind sehr gefährlich geworden“, so Roberts. Nicht einmal die langfristig agierenden Ölkonzerne und Minenbetreiber seien vor der Katastrophe sicher. Lediglich „Anleihen von hoher Qualität“ seien von der Empfehlung ausgenommen. Es gehe einzig und allein darum, sein Kapital zu retten und nicht die Erträge, denn: „In einem überfüllten Saal sind die Notausgänge klein.“

Dazu Dennis Snower vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW): Wir brauchen eine Fiskal- und Strukturpolitik, die im Einklang mit einer an den realen Wachstumsmöglichkeiten ausgerichteten Geldpolitik ein neues Gleichgewicht ansteuert“. Und weiter: „Die Phase, in der vermeintlich vor allem Notenbanken das Wirtschaftswachstum vorantreiben, müsse beendet werden. Zinsen müssen wieder den realen Risiken entsprechen, und die Notenbanken müssen sich zukünftig wieder auf das Inflations-Management fokussieren können.“

Die gegenteilige Meinung vermeint Daniel Saurenz, Finanzexperte vom Investmentportal Feingold Research. Er sieht noch keinen Grund zur Panik: „Natürlich gibt es Risiken. China hat seinen Finanzmarkt nicht im Griff und auch in den USA gibt es massive Probleme. Aber die Panikmache der RBS, alles zu verkaufen, ist albern und unsachlich“, sagte er. Jetzt kennt man sich aus. Es ist der Mark-Twain-Effekt. Der riet schon 1894: „Oktober ist einer der besonders gefährlichen Monate, um am Aktienmarkt zu spekulieren. Die anderen sind Juli, Januar, September, April, November, Mai, März, Juni, Dezember, August, und Februar.“

FLÜCHTLINGE

Der Ruf vieler Politiker „Die EU muss ihre Außengrenzen besser sichern“ sind nur miese Tricks zur Ablenkung davon, dass die nationale Politik nicht mehr willens ist, selbst für den Schutz des eigenen Landes zu sorgen. Das meinen nicht nur Osteuropäischen Politiker und sogenannte „Kreise im „Westen“. Überhaupt droht die EU durch die Flüchtlingskrise in zwei Zonen zu zerbrechen. Eines merkt selbst der oft zitierte kleine Mann von der Straße: „Einen funktionierenden Schutz der EU-Außengrenzen in Griechenland und Italien wird es wohl so schnell nicht geben.
Man könne Seegrenzen nicht absichern, heißt es. Nun, Australien kann es. Spanien kann es und die USA können es auch. Zu allem Überdruss kommen krasse Meldungen aus Tschechien. Der tschechische Präsident Milos Zeman sagte im Radio: Die Flüchtlingsbewegung sei eine „Invasion“, die von der Muslimbruderschaft organisiert werde. Seine Theorie begründete der tschechische Präsident laut CTK mit Informationen, die ihm führende arabische Politiker zugespielt hätten.
Ein Ergebnis der gescheiterten Willkommenskultur: Selbst die eiserne Kanzlerin, Angela Merkel, ist unter Druck. Finden doch im März Landtagswahlen in Deutschland statt. Und die Menschen strömen in Massen zur Opposition. Dazu kommt, dass es zwar jede Menge Erklärungen der EU zur Flüchtlingskrise gibt, viel vorgeschlagen wurde aber wenig gehalten.

Deutsche Politiker sind etwas verwundert. Bisher konnte man mit Geld fast alle EU-Probleme lösten. In der Flüchtlingskrise funktioniert das auf einmal nicht mehr. Androhungen von Subventionskürzungen werden mit dem Wort „Erpressung“ zurückgewiesen. Jan Techau, Chef von Carnegie Europe, einem Institut für außenpolitische Analysen in Brüssel: „Es fehlt der politische Wille der Mitgliedsstaaten angebotene Lösungen umzusetzen. Die EU-Flüchtlingspolitik ist in gewisser Weise ein großer Bluff. Die EU-Regierungen machen nicht nur den Menschen, sondern auch sich selbst etwas vor, wenn sie etwas beschließen, was in der Praxis nicht standhalten kann.“

Man kann dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan einiges vorwerfen. Aber eines kann er: handeln und feilschen. Der Basar ist ja nicht weit. Derzeit spricht man von drei Milliarden, die man der Türkei gebe, wenn sie den Flüchtlingsstrom eindämme. Oder besser gar ganz verhindere. Flüchtlingshilfe heißt das im politischen Sprachgebrauch. Erdogan hat aber die besseren Karten. Und weiß es. Man hört, dass er den Einsatz gerade auf sechs Milliarden erhöht haben soll. Seine Lust an Grenzkontrollen sei endenwollend.

Und was sollen die EU-Bürger von der schnellen Eingreifgruppe, noch heißt sie Frontex, erwarten. Ein hoher Offizier sagte, was sollen wir tun? Wir können die Schiffe oder Schlauchboote doch nicht beschießen. Also bleibt uns nur die Menschenpflicht: In Seenot befindliche Menschen zu retten. Mal was von Zurückschicken gehört?

Die Chancen für Kanzlerin Angela Merkl, in der Flüchtlingskrise eine europäische Lösung zu erreichen sinken. Tschechien, Polen, Ungarn und die Slowakei haben vor dem EU-Gipfel am 18. und 19. Februar ein eigenes Vierländertreffen zur Flüchtlingskrise angesetzt. Am 15. Februar würden dazu die Ministerpräsidenten der Visegrad-Gruppe zusammenkommen, teilte Tschechiens Ministerpräsident Bohuslav Sobotka heute im Kurznachrichtendienst Twitter mit. Die Gruppe fordert einen verstärkten Schutz der EU-Außengrenze und Begrenzungen der Flüchtlingszahlen. Viele osteuropäische Staaten sprechen sich außerdem vehement gegen die von der EU beschlossenen Quote zur Verteilung von Asylsuchenden aus.

DER EU DROHT GEFAHR

Die Gefahr besteht, dass die EU an der Flüchtlingskrise zerbricht. Nicht wenige sagen heute: „Mutti hat es vergeigt.“ Joschka Fischer Ex-Aussenminister meint dazu: Das sei völliger Schwachsinn. Kanzlerin Angela Merkel habe recht. Sie verdiene für ihre humanitäre Haltung Achtung und größten Respekt. Dessen ungeachtet wird das Asylrecht im Eiltempo verschärft. Fast schon tägliche Meldungen über Übergriffe von Migranten, bis hin zu Mord, machen Merkl das Leben nicht leichter. Wenn, dann scheitert Merkel nicht an ihrer Willkommenspolitik, sondern an dem entsetzlichen Verhalten von Migranten und der faktischen Trostlosigkeit des europäischen Asyl- und Flüchtlingsrechts.

Zwar heißt es „die europäische Integration sei irreversibel.“ Doch die Solidarität der Staatengemeinschaft scheint an ihrer Belastungsgrenze angekommen zu sein. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn sagte der Deutschen Presse-Agentur. „Die Europäische Union kann auseinanderbrechen. Das kann unheimlich schnell gehen, wenn Abschottung statt Solidarität nach innen wie nach außen zur Regel wird“.

Asselborn fürchtet ein Zurück in die Vor-Schengen-Zeit. Anlässlich der Flüchtlingskrise meint er aber in der EU seien aber auch „einige dabei, welche die wirklichen Werte der Europäischen Union, die ja nicht nur materielle Werte sind, nicht richtig verinnerlicht haben.“ Und weiter: „Dieser falsche Nationalismus kann zu einem richtigen Krieg führen.“ Um die Probleme Europas zu lösen, bliebe nicht mehr viel Zeit: „Wir haben vielleicht noch einige Monate. Mehr nicht.“ Inzwischen scheint es Tatsache: Schengen ist de facto gescheitert. Die Europäische Union ist Geschichte.
Es ist nur ein schwacher Trost, wenn man korrekterweise feststellen muss, dass es knüppeldick auf die EU zugeht: Euro, Ukraine, Syrien, Flüchtlinge, Terrorismus. Jetzt glaubt man einen Ausweg gefunden zu haben: Nur eine Kerngruppe könne das alles am Ende stemmen. Schengen kann man leichter suspendieren und am Ende sang- und klanglos scheitern lassen. Mit dem Euro geht das nicht. Den hat man, oder man hat ihn nicht.

Anlässlich der Übernahme der Ratspräsidentschaft durch die Niederlande sagte Ministerpräsident Rutte die EU könne das gleiche Schicksal erleiden wie das Römische Reich, wenn sie nicht die Kontrolle über ihre Außengrenzen zurückerlange und den „massiven Zustrom“ von Flüchtlingen aufhalte. Dazu sei vor allem nötig, dass die EU-Länder des Südens die vereinbarten Maßnahmen zur Eindämmung der Flüchtlingsbewegung umsetzen.“

ZEITENWENDE

Kaum ein deutscher Historiker ist so streitbar wie Jörg Baberowski. Denn ihn bewegt nicht nur Vergangenes, sondern auch die Gegenwart – wie die Flüchtlingskrise, die seiner Meinung nach Deutschland für immer verändern wird. Seine Thesen dazu sind provokant. Nicht jeder Flüchtling sei eine Bereicherung für Deutschland, sagte er. Mit solchen Aussagen hat sich der Professor für die Geschichte Osteuropas, der an der Berliner Humboldt-Universität lehrt, schon die Bezeichnung Rechtsintellektueller eingehandelt.

Jörg Baberowski meint es sei eine Zeitenwende. Nur, das kann man immer erst nachher wissen. Auch 9/11 haben die Menschen nicht sofort als Zeitenwende wahrgenommen: „Ich glaube aber schon, dass etwas grundsätzlich Neues geschieht, das unser Land sehr verändern wird. Deutschland wird sich nicht mehr aus Kriegen und Konflikten raushalten können. Und das Deutschland, das wir kennen, wird durch die Masseneinwanderung verschwinden.“ Es ist das Deutschland, das auf einem christlichen Wertefundament beruht. All das, was uns lieb und teuer war, womit wir unserem Leben bislang einen Halt gegeben haben, muss sich ändern, weil Menschen aus einem anderen Kulturkreis kommen und auch andere Vorstellungen davon haben, wie wir leben sollen. Deutschland muss nun – wie auch die USA – einen gemeinsamen Nenner finden, auf den sich das Leben der Vielen bringen lässt. Wie das geschehen soll, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass es nicht einfach werden wird.

Deutschland ist für dieses Problem überhaupt nicht gerüstet. Die dynamischen Einwanderungsländer – die USA, Kanada, Australien – sind gut vorbereitet, weil sie Einwanderung organisieren und steuern. Wir machen das nicht. Es ist absurd, dass ein russischer Akademiker nur mit Mühe ein Visum erhält, einem pakistanischer Wanderarbeiter, der ohne Pass nach Deutschland kommt, aber alle Möglichkeiten offen stehen sollen. Wir steuern Einwanderung nicht.

GAME OVER?

Die jüngsten Diskussionen um einen möglichen EU-Beitritt der Türkei, der – wenn überhaupt – ohnehin erst in einigen Jahren möglich wäre, ist reine Zeitverschwendung. Denn seit einiger Zeit macht sich ein zunehmender Zerfall der Europäischen Union bemerkbar, den man nur noch schwerlich kaschieren kann. Entweder sorgt man für eine umfassende Reform des Projektes, welches den Staaten wieder mehr Souveränität zugesteht, oder aus den nunmehr 28 Mitgliedsländern werden deutlich weniger.
So wird das von London angekündigte Referendum über den weiteren Verbleib in der EU – möglicherweise bis sehr wahrscheinlich – mit einem Austritt des Vereinigten Königreichs enden. Auch die Dänen machten erst kürzlich deutlich, dass sie eine weitere EU-Integration nicht wünschen. Die Fidesz-Regierung in Ungarn dreht ohnehin ihr eigenes Ding und die neue polnische Rechtsregierung ließ die EU-Fahnen nicht umsonst abmontieren. Auch Tschechien und die Slowakei haben so ihre Probleme mit dem Kurs Brüssels – insbesondere, wie auch Polen und Ungarn, in Sachen Flüchtlings- und Asylpolitik.

Diese neueren Entwicklungen treffen auf jene, die wir seit Jahren in Südeuropa erleben. Die Griechen haben es vorgemacht, die Portugiesen folgten – und in Spanien oder Italien ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung dort dem Brüssel-hörigen Kurs der aktuellen Regierungen ein Ende setzt. Zudem könnte Marine le Pen vom Front National bei den französischen Präsidentenwahlen nächstes Jahr unter Umständen sogar gewinnen.

Ein Blick auf die Entwicklungen innerhalb der EU der letzten Jahre verdeutlicht das politische Dilemma der Eurokraten, die eine umfassende Zentralisierung der Politik vorantreiben. Doch eine „Diktatur der Eurokraten“ ist auf eine hörige Führungsschicht in den Mitgliedsstaaten angewiesen. Wenn diese wegfällt, so wie wir es derzeit in immer mehr Ländern sehen, wird dieses Szenario einer EUdSSR immer unwahrscheinlicher. Die EU zerfällt langsam aber sicher, anstatt zusammenzuwachsen wie es sich so manche Utopisten vorgestellt haben.

EINE KRISE ZUVIEL?

Trost spendet die Erkenntnis, dass die Europäische Union ein erstaunliches Konstrukt ist. Und das viele Staaten gehörige Vorteile aus der Mitgliedschaft ziehen. Das hat ihr bisher geholfen all die großen und kleinen Spannungen zu überleben. Jeder Konflikt hat zu manchen Streit zwischen den Mitgliedstaaten geführt. Aber irgendwie ging es immer weiter. Oft kam die EU sogar gestärkt aus der jeweiligen Krise. Die Euro-Krise etwa hat zu einem spürbaren Kompetenzgewinn für den Brüsseler Apparat und die Europäische Zentralbank geführt. Offenbar sind die Institutionen der EU gefestigter, als es oft erscheint.

Trotzdem hat sich etwas verändert in Europa, womöglich sogar grundlegend. Politiker haben den Erfolg der EU stets daran gemessen, ob am Brüsseler Verhandlungstisch eine Einigung möglich ist. Deshalb sprechen sie immer dann von einer Krise, wenn nationale Interessen aufeinanderprallen; wird ein Kompromiss gefunden, dann gilt sie als beigelegt, obwohl das in der Sache noch lange keine Verbesserung sein muss. Die Krise des Euros ist dafür ein trauriges Beispiel. Sie gilt im Wesentlichen als abgehakt, obwohl die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der EU nicht überwunden sind.

Sollte die Gegner der EU die Oberhand gewinnen – und sie gewinnen derzeit große Zustimmung – dann wird so ziemlich alles in Frage gestellt, was die EU heute ausmacht: der Binnenmarkt, Schengen, die Freizügigkeit und die Währungsunion. Man kann nur hoffen, dass die Flüchtlingskrise nicht die eine Krise wird, die am Ende doch zu viel ist für die EU.

Auch Ex-EU-Kommissar Günter Verheugen warnt vor einem Zerfall der EU. Er befürchtet „einen langen und schleichenden Niedergang“ und einen „immer größer werdenden politischen und wirtschaftlichen Bedeutungsverlust“. Er fordert die nationalen Regierungen dazu auf, das Gemeinschaftsinteresse vor die nationalen Interessen zu stellen.

EUROPA, EINE UNAUFLÖSLICHE SCHICKSALSGEMEINSCHAFT

In den europäischen Gesellschaften werde der Zweifel an der Funktionsfähigkeit, ja an der Sinnhaftigkeit des ganzen Projekts immer größer. „Die Regierungen müssen begreifen, dass sie sich nicht an kurzfristigen nationalen Interessen und vor allem nicht an ihren eigenen parteipolitischen Interessen orientieren dürfen, sondern dass sie Europa wieder als eine unauflösliche Schicksalsgemeinschaft betrachten müssen und das Gemeinschaftsinteresse vor das nationale Interesse stellen müssen.“

Das Hauptproblem sei die mangelnde Solidarität innerhalb Europas. Das betreffe nicht nur die Flüchtlingsfrage. „Die anderen Länder denken beispielsweise, dass Deutschland sich in der Frage der Währungsunion, aber auch in der Flüchtlingsfrage unsolidarisch verhalten habe.“ Nach Meinung einiger Länder habe Deutschland die Flüchtlinge sozusagen eingeladen und müsse nun damit fertig werden. Die Präsidenten der wichtigsten Wirtschaftsverbände warnten in einer Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters, wenn das Projekt eines gemeinsamen Europa an wachsenden nationalen Egoismen scheitere, drohe der Verlust von Wohlstand, wirtschaftlichem Erfolg und Sicherheit.

„Das Scheitern Europas ist ein realistisches Szenario“, sagt EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD). Und „Die Osterweiterung der EU ist gescheitert“, sagt der Politikwissenschaftler Andreas Maurer, der an der Uni Innsbruck lehrt. Erst 2007 hätten die EU-Staaten – darunter auch die eben erst beigetretenen zwölf osteuropäischen Mitglieder – vereinbart, dass die EU künftig häufiger per Mehrheit und seltener einstimmig entscheidet.
Der US-Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman bezeichnete die EU in der New York Times als „Elitenprojekt, das als alternativloser Weg der Weisheit verkauft wurde“. Das aber funktioniere nur so lange, wie die Menschen von der Weisheit ihrer Anführer überzeugt seien. Doch die diversen Krisen und vor allem das Flüchtlingsdrama vermitteln eher den Eindruck, dass Europas Regierungen hoffnungslos überfordert sind. Um die angepeilten Ziele zu erreichen müssten Europas Staaten in großem Umfang Souveränität abgeben. Das aber scheint niemand zu wollen.

Reuters-Korrespondent Paul Taylor schreibt unter der Überschrift „Europas entsetzliches Jahr könnte Schlimmeres ankündigen“: „Die Krisen von 2015 haben die Union beinahe zerrissen und sie beschädigt, verletzt, mutlos und übersät mit neuen Grenzen zurück gelassen.“
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz warnte in der Zeitung Die Welt, niemand könne sagen, „ob es die EU so in zehn Jahren noch geben wird“. Die Alternative sei „ein Europa des Nationalismus, ein Europa der Grenzen und Mauern. Das wäre verheerend, denn ein solches Europa hat unseren Kontinent in der Vergangenheit wiederholt in die Katastrophe geführt.“

Die Europäische Union ist im Jahr 2015 von ihren eigenen, in den EU-Gründungsdokumenten verankerten Prinzipien abgerückt – den Prinzipien der Demokratie, der Freiheit und der Subsidiarität“, schreibt die regierungsnahe französische Webseite Atlantico. Der alte Kontinent ist in seiner Geschichte gefangen. Nationale Gegensätze erwachen wieder. Die EU ist mehr Wunsch als Wirklichkeit – und Globalisierung bedeutet nicht Selbstvergessenheit.

EU-Kommissionschef Juncker hat vor dauerhaften Grenzkontrollen und einem Ende der Reisefreiheit in der EU gewarnt. Er appellierte an die Mitgliedstaaten, sich in der Flüchtlingskrise stärker einzubringen. Europa gebe momentan ein geradezu klägliches Bild ab. Und weiter: „Ich bin es langsam leid, dass man immer wieder die Europäische Kommission und die Europäische Union dafür kritisiert, dass nicht genug getan worden wäre. Die Kommission hat alles gemacht“, schimpfte Juncker.

HOFFNUNG

Die europäische Geschichte muss in die Köpfe der Menschen. Diese Jahrhundertidee, die Europa nach vielen Kriegen den Frieden brachte, darf nicht kaputt gemacht werden. Nationale Kleinstaaterei hilft niemandem, vielmehr müssen Staaten lernen, europäisch zu denken, was zur Folge hätte Europa zu stärken, indem man ihm mehr Macht, mehr Souveränität verleiht. Das gilt auch für Polen, für die Slowakei, Ungarn. Es gilt für alle. Nur ein starkes Europa wird sich gegenüber der weltweiten Konkurrenz behaupten können und alle werden langfristig davon profitieren.

Deshalb wird die Zukunft der Europäischen Union nicht in Brüssel entschieden. Nicht in Berlin, Paris, London, Rom oder sonst wo. Sie wird in den Herzen und Köpfen aller Unionsbürger entschieden. Jedes Einzelnen! Die kommenden Monate werden für die Zukunft der Europäischen Union entscheidend sein. Um es in der Sprache des Fußballs zu sagen: das Endspiel hat begonnen.

Die Hoffnung, dass die EU auch die derzeitige Multiple-Krisensituation bewältig ist größer als die Angst, die EU könnte scheitern. Die europäische Integration gelang nach 1945 nicht aus Liebe zu Europa, sondern: „Die Formung Europas war die Einbindung Deutschlands zu einem größeren westlichen Verbund.“ So Altkanzler Helmut Schmidt aus einer Biographie von Martin Rupps „Der Lotse“ mit dem Untertitel „Helmut Schmidt und die Deutschen“ zitiert. (Orell Füssli Verlag Zürich, 2015, 368 Seiten, 21.95 Euro)

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es keinen Krieg mehr in Europa, wenn man den Zerfall Jugoslawiens und die Neuordnung des Balkans außen Acht lässt. Es herrscht Friede zwischen den Ländern Europas. Und der Eiserne Vorhang liegt seit Jahr und Tag auf dem Müllhaufen der Geschichte.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bringt in einem Interview mit dem „Europamagazin“ eine „neue Architektur für die Europäische Union“ ins Gespräch. „Manchmal denk ich mir, dass wir in Zukunft über eine neue Architektur der Europäischen Union nachdenken müssen, wo wir, ich gebrauche das Wort Kerneuropa nicht sehr gerne, wo wir Mitgliedsstaaten haben, die vieles, wenn nicht sogar alles in gemeinsamer Beschlussfassung durchführen. Wem das zu heiß in der Küche wird, der muss sich in kühlere Gebiete zurückziehen.“

Aus seiner Enttäuschung über die gegenwärtige Uneinigkeit Europas und den Egoismus von Mitgliedsstaaten machte Juncker in dem Gespräch mit ARD-Korrespondent Rolf-Dieter Krause keinen Hehl. Die Europäische Union sei eine Schicksalsgemeinschaft, aber sie benehme sich nicht immer so. Juncker: „Mich betrübt, mich macht regelrecht traurig in Europa, dass wir gemeinsame Beschlüsse treffen und dass dann nachher diese Beschlüsse nicht durchgeführt werden.“

Juncker verwies auf die Größe der EU mit 28 Regierungen und an die 70 Regierungsparteien, die eine Einigkeit immer schwerer machten. Möglicherweise müsse sich etwas Grundlegendes ändern: Angesichts der Herausforderungen, vor denen die EU steht, etwa die Flüchtlings- oder die Beschäftigungskrise, plädierte Juncker für mehr Europa statt für weniger: „Man muss den jungen Menschen in Europa erklären, dass wir auf einem kleinen und schwachen Kontinent leben. 20 Prozent der Menschen weltweit waren am Anfang des 20. Jahrhunderts Europäer. Am Ende dieses Jahrhunderts werden es nur vier Prozent von zehn Milliarden Menschen auf diesem Planeten sein. Wir werden an wirtschaftlichem Einfluss und Gewicht verlieren. Das heißt, es ist jetzt nicht die Stunde des Zurückdrehens der Entwicklung. Wenn ich nicht Luxemburger wäre, würde ich sagen, dies ist nicht die Stunde der Kleinstaaterei.“

Von außen betrachtet ist die EU eine riesige, schwer durchschaubare, komplizierte Maschinerie. Doch das vermeintliche Bürokratiemonster schrumpft stark, schaut man genauer hin. So verfügt die EU-Kommission – im Gefüge der EU so etwas wie eine Regierung – über rund 33.000 Mitarbeiter. Zum Vergleich: die wirklich gut und straff geführten Wiener Linien beschäftigen an die 8.000 Menschen.

Im Arbeitsleben, insbesondere bei der Gesundheit und Sicherheit von Angestellten, hat sich dank der EU vieles verbessert. Ähnliches gilt für Verbraucher. Ohne die EU würden Flugpassagiere wohl immer noch auf ein Recht auf Entschädigung bei Verspätungen warten. Und Mobilfunk-Anbieter könnten ihre Kunden weiterhin nach Belieben schröpfen, sobald diese es wagten, im Ausland zu telefonieren oder gar E-Mails abzurufen.

Ist die Europäische Union zu schnell zu erfolgreich und zu groß geworden? So wie Microsoft in den Neunziger Jahren? Damals löste Microsoft IBM als das coolste digitale Unternehmen der Welt ab, bevor es ein Jahrzehnt später von Newcomern wie Google und Facebook sowie dem wiedergeborenen Apple überholt wurden. Jetzt verwaltet Microsoft sein schrumpfendes Windows Monopol, während die Innovationen woanders herkommen. Erinnert uns das an irgendwas?

Endspiel um die Zukunft der Union? Wer sich dieser Frage stellt, kommt schnell zu einer anderen: welchen Wert hat die Europäischen Union im 21. Jahrhundert für den einzelnen Bürger? Freiheit, Frieden und wirtschaftliche Entwicklung für alle, das waren die Versprechen nach 1945. Noch vor wenigen Jahren hielten sie viele für selbstverständlich. Dann kam die globale Finanzkrise und in ihrem Schlepptau die griechische Krise. Dann kam der arabische Frühling, der Ukraine-Konflikt und vor wenigen Wochen, am 13. November, suchte der islamistische Terrorismus Europa heim. Inzwischen dämmert es den meisten: Freiheit, Frieden und wirtschaftliche Entwicklung sind alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Das ist das Fundament auf dem die Hoffnung gründet, dass – zumindest einer Mehrheit – bewusst ist, die EU ist heute im globalen Wettbewerb unverzichtbar.

AUSBLICK: DIE EU IST TOT – ES LEBE DIE EU

Die Europäische Union steckt schon seit mehr als einem halben Jahrzehnt im Krisenmodus. Erst die Weltfinanzkrise mit dem massiven Einbruch des Wirtschaftswachstums, welche vor allem die Länder mit Immobilienblasen hart traf, also Großbritannien, Irland und Spanien. Dann die Euro-Krise, welche die Süd-Länder schüttelte – und in der Folge den gesamten Euro-Raum. Schließlich die Flüchtlingskrise, die sich schleichend seit Jahren aufgebaut hat und 2015 kulminierte. Längst glauben Pessimisten – oder andere Gruppierungen, die Europäische Union stehe kurz vor dem Kollaps. Dem widersprechen Zukunftsforscher. Sie sind überzeugt: Wir kommen den „Vereinigten Staaten von Europa“ immer näher.

Lüder Gerken, Vorsitzender des Centrums für Europäische Politik, gehört eher zu den Pessimisten. Wahrscheinlich bleibe das Konstrukt EU bestehen – zu groß seien die wirtschaftlichen Interessen und die Sorge einzelner Staaten, ohne EU politisch an Gewicht zu verlieren. „Doch Lösungen in der Schulden- und Flüchtlingskrise sind nicht abzusehen.“ Zudem sei „eine Renationalisierung in Europa bereits in vollem Gange“, so Gerken weiter. Länder wie Großbritannien, Frankreich oder Polen sehen die EU vor allem als „Vehikel um eigene Interessen durchzusetzen“. Die Fakten sprächen somit gegen ein vereintes Europa.

DAS EUROPÄISCHE JAHRHUNDERT

Daniel Dettling, Leiter des Zukunftinstituts in Berlin, sieht es ähnlich. „Der Abgesang auf die EU ist so alt wie die EU selbst“, sagt der Zukunftsforscher. Tatsächlich jedoch wachse in Krisen immer auch die Bereitschaft, gemeinsam Lösungen zu finden.“ Getreu dem Motto: „Ist die Not am größten, ist die Rettung am nähesten. Dettling rechnet auf lange Sicht mit einem Trend zu mehr Einheit in Europa – allerdings ohne, dass die Vielfalt des Kontinents und die verschiedenen Identitäten der Staaten verloren gingen. „Ein Ende des Nationalstaates wird es in den nächsten Jahrzehnten nicht geben“, ist sich Dettling sicher. Denn: „Das 21. Jahrhundert wird das europäische Jahrhundert.“ Obwohl die EU demografisch altern werde, sei Europa mit seinen funktionierenden Sozialstaaten unter anderem Asien einen entscheidenden Schritt voraus. „Das macht die EU auch in 20 Jahren noch besonders attraktiv“, erläutert Dettling.

Alle Experten sind sich einig, dass vor allem wirtschaftliche Interessen die EU zusammenhalten. „Die Wirtschaft stand immer im Zentrum – und das wird auch so bleiben,“ sagt Dettling. Er wertet das positiv: „Nie gab es eine so lange anhaltende Friedensphase in Europa wie jetzt. Das haben wir der Wirtschaftsunion zu verdanken. Die gemeinsamen Wirtschaftsinteressen sichern den Frieden.“

Derzeit erlebten wir in Europa jedoch auch einen Gegentrend zur Globalisierung, meint Dettling. Vielen Menschen sei Europa momentan zu schnelllebig und zu komplex. Das ist mit ein Grund für die neue Nationalisierung, die in vielen Staaten zuletzt rechtspopulistischen Parteien zum Aufschwung verhalf. Das zeige: „Die politische Mitte insgesamt hat ein Problem.“ Viele Menschen seien der ständigen Kompromisse müde: „Sie wünschen sich aus diesem Grund moderne Diktatoren, die sagen: „Das will ich und das mache ich so!'“

Doch Kompromisse sind ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Politik. Den Politikern muss es endlich gelingen, die komplexen Vorgänge der globalisierten Welt verständlich zu machen. Denn eines ist klar: Schon der EU-Anteil an der Weltbevölkerung betrage nur etwa sieben Prozent. Damit sei klar: Kein Mitgliedsland kann sich einen Alleingang erlauben – nicht einmal Deutschland. „Ohne die EU sind die Staaten viel zu klein, um etwas zu bewegen.“

Dass die EU renoviert werden sollte, davon sind alle überzeugt: „Es gibt einfach zu viele Baustellen, an denen das europäische Haus weitergebaut werden muss.“ Leicht dürfte das Unterfangen nicht werden. Die Zahl der Skeptiker ist seit dem letzten Konvent nicht kleiner geworden. Man will aber trotzdem weiter an dem „dicken Brett“ bohren: „Irgendwann kommt man durch.“

DIE EUROPÄER WOLLEN IHRE UNION

Wollen die europäischen Völker wirklich das Ende der Union? Eine breit angelegte Umfrage des britischen Instituts ORB International in 14 EU-Ländern zeigt, dass es fast durchweg Mehrheiten für den Verbleib in der Union gibt. Insgesamt sogar mit einer recht beeindruckenden Zweidrittelmehrheit: 68 Prozent der Befragten, die sich eindeutig äußerten (also ohne die Weiß-nicht-Stimmen), würden in einem Referendum dafür votieren, dass ihr Land die EU nicht verlässt. Die Austrittsbefürworter kommen auf insgesamt 32 Prozent. Zählt man die Unentschiedenen mit, so kommt man auf ein Verhältnis von 64 zu 30. Allerdings sind Polen und Ungarn mit ihren besonders nationalistischen Tendenzen in der Umfrage nicht vertreten.

In 13 der Länder, in denen ORB Anfang Dezember die repräsentativen Daten erhoben hat, überwiegen die Anhänger einer EU-Mitgliedschaft. Die Bandbreite reicht von 82 Prozent in Bulgarien bis 58 Prozent in Italien. Hohe Pro-EU-Quoten gibt es auch in Spanien (79 Prozent) und Irland (78 Prozent), also in Ländern, die trotz aller Sparmaßnahmen der letzten Jahre insgesamt stark von der EU profitiert haben. Die Austrittsbereitschaft wiederum ist in Schweden und Dänemark mit etwa 40 Prozent am stärksten, zwei Wohlstandsnationen also. Am deutlichsten in Richtung Austritt hat sich die Stimmung in Italien verschoben: Dort würden jetzt 42 Prozent die EU verlassen, gegenüber 25 Prozent in der Umfrage ein Jahr zuvor. In Deutschland sprachen sich 72 Prozent für den Verbleib aus, 28 Prozent dagegen.

Das einzige Land der EU, in dem die Austrittsbefürworter die Mehrheit haben, ist Großbritannien: 54 Prozent der entschiedenen Befragten sind dort laut ORB dafür, dass das Vereinigte Königreich die EU verlässt. 46 Prozent sind für den Verbleib. Allerdings ist die Quote der Unentschiedenen mit 21 Prozent sehr hoch, weshalb noch nicht ausgemacht ist, wie sich die Briten am Ende tatsächlich entscheiden werden. Das von Cameron eingeleitete Referendum soll 2016 oder spätestens 2017 stattfinden. Der verantwortliche ORB- Manager Johnny Heald sagte, Großbritannien sei das „schwarze Schaf“ in der Familie. Jetzt komme es auf Camerons Verhandlungen mit seinen EU-Kollegen, an, um den „Brexit“ zu vermeiden.

Der Euro ist übrigens in den Ländern, die ihn als Währung haben, mehrheitlich akzeptiert. Die Zustimmung ist in Finnland und Irland mit 60 Prozent und mehr am höchsten. In Deutschland befürworten 55 Prozent die Gemeinschaftswährung. Nur in Italien gibt es knappe relative Mehrheiten gegen den Euro: 44 Prozent der Griechen und 47 Prozent der Italiener lehnen ihn ab. In den Nicht-Euro-Ländern gibt es dagegen große Mehrheiten für die nationale Währung, am stärksten in Großbritannien mit 83 Prozent. Etwas kurios ist hier das Ergebnis in Dänemark: 75 Prozent der Dänen wollen ihre Krone behalten, die freilich seit 1999 in einem festen Wechselkurs an den Euro gebunden ist – praktisch hat Dänemark damit den Euro, die Geldpolitik des Landes folgt der Europäischen Zentralbank und damit dem Euro-Raum. Die Europäer wollen also ihre Union. Und das ist gut so.

EPILOG

Die Idee der Demokratie sollte sein, dass Bürger die Politiker kontrollieren. Nun stellt sich aber heraus: Die Wähler haben keine Kontrolle über die Politiker. Und es gibt eine immer größer werdende Kluft zwischen dem, was Politiker im inneren Kreis sagen, und dem, was sie außen erzählen. Der Unterschied zwischen drinnen Besprochenem und draußen Verschwiegenem ist größer denn je. Und manches Mal werden sogar schon die Grenzen gesteuerter Desinformation überschritten. Der europäische Zusammenhalt, die viel beschworene Wertegemeinschaft, stand immer nur auf dem Papier der Festtagsreden.

Der Pessimist sagt, die EU geht den Bach runter. Der Optimist sagt, wenn nur die Hälfte von dem kommt, was der Pessimist befürchtet, dann ist das schon eine Mezzie. Die Politiker, die vom Podium aus gesehen rechts sitzen sagen: „Schranken zu und durch“. Die Politiker, die vom Podium aus gesehen links sitzen sagen wie weiland der Schaffner vom Wagen der Linie 8: Aber Leid – lasst´s doch´d Leid nei *). Und der gute alte, edle Kaiser tät´ sagen: Mir bleibt auch nichts erspart.

*) auf Hochdeutsch: Hallo, Leute, lasst doch die Leute herein. (Zum Gedenken an den Weiß Ferdl)

 

Mit Beiträgen aus den Quellen von: WIKIPEDIA, Badische Zeitung, Blog der Republik (Blog), boersen-zeitung.de cash.ch, Contra Magazin, CO-OP NEWS – WordPress.com, derstandard.at, Derwesten.de, Deutschlandfunk, DIE WELT, DiePresse.com, EU-Infothek.com, EUR-Lex – Europa, Europäisches Parlament (Pressemitteilung), Express.de, FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, Finanzen.net, Focus.de, FOCUS Online, Frankfurter Rundschau, Freie Presse, Hafenradar, Handelsblatt, vorarlberg.orf.at, berliner-zeitung.de, boerse-online.de, eu-infothek.com, huffingtonpost.de, orf.at, spiegel.de, thecommentator.com, books.google.at, boell.de, lobbycontrol.de, neuronation.com, unzensuriert,at, Junge Freiheit, Juraforum.de zu: Was ist eigentlich Art. 42 Abs. 7 EU-Vertrag?, Kleine Zeitung, Krone.at, NDR.de, NEOpresse, Neue Zürcher Zeitung, Nordwest-Zeitung, NOZ – Neue Osnabrücker Zeitung, openPR.de (Pressemitteilung), Ostthüringer Zeitung, Peter Pilz, Pressenza – Internationale Nachrichtenagentur, Pressrelations, Preußische Allgemeine Zeitung, Salzburger Nachrichten, Schweizer Radio und Fernsehen, SPIEGEL ONLINE, Sputnik Deutschland, Süddeutsche.de, Südwest Presse, Tages-Anzeiger, tagesschau.de, Tagesspiegel, taz.de, The European, Tiroler Tageszeitung Online, t-online.de, Ukraine-Nachrichten, vorwärts.de, Web.de, Westfälische Nachrichten, Wiener Zeitung, WirtschaftsBlatt.at, World Socialist, genios.de n-tv.de, Die Zeit, ZEITonline. REDAKTION The POORWORKER: Mario Passini